Aufbruch im Land der Pedalenpoeten
Der Tag beginnt, bevor die Sonne überhaupt weiss, dass sie aufstehen muss. Ein paar Züge später stehe ich im Herzen von Amsterdam. Der Bahnhof ist ein futuristischer Ameisenhaufen aus Stahl, Glas und Velos – 7’000 davon parkiert, alle so ordentlich, dass man fast die holländische Mentalität in Reihen und Spalten riecht.
Ich fahre los, rolle durch die Stadt, vorbei an Grachten, vorbei an Menschen, die so freundlich sind, dass man fast vergisst, dass hier eigentlich Grossstadt ist. Ein Auto hält auf dem Fussgängerstreifen, eine Frau hinter mir sagt mit einer unglaublich sanften Stimme:
“oh nee, dat is niet leuk om hier vanuit de auto te stoppen”
Ich muss lachen.
Dann öffnet sich das Land. Meine Route zeigt feine Kurven entlang von Wiesen, Dämmen und Kanälen. Ich sehe Hasen, einen Fasan, sogar einen Flusskrebs – alles in freier Wildbahn. Über mir ziehen Gänse im Formationsflug. Ich fahre gemütlich: endlich wieder dieses Gefühl, unterwegs zu sein, zwischen Himmel und Asphalt, irgendwo zwischen Plan und Freiheit.
Gegen Abend wird es kalt. Ich frage fünf Menschen, ob ich bei ihnen übernachten kann. Fünfmal lächeln sie freundlich, fünfmal sagen sie nein. Die Sonne taucht die Weiden in goldenes Licht, als mich ein Mann an eine Bed-and-Breakfast-Anlage gleich nebenan verweist. Warm, freundlich, grosszügig – wie alles hier. Ich esse, dusche, falle ins Bett.
Zwischen Nebel, Holz und Herzklopfen
Ich wache auf, als hätte ich auf einer Wolke geschlafen. Draussen hängt der Nebel tief über den Feldern, so dicht, dass man das Ende des Gartens nur erahnen kann. Im Kühlschrank steht ein Frühstück, das aussieht wie ein Liebesbrief ans Leben: frisches Brot, Käse, Saft, Obst, alles bereitgestellt, als hätte jemand gewusst, dass ich heute besonders viel brauche.
Die ersten Kilometer rollen sich wie von selbst. Die Luft riecht nach Erde und Herbst, und mit jedem Atemzug wird mir klar, warum ich das mache: weil der Kopf hier aufräumt, wenn der Körper arbeitet. Hasen flitzen über den Weg, ein Fasan stolziert durchs Gras, als würde er mir zeigen wollen, wie gutes Selbstvertrauen aussieht.
Dann kommt die Brücke – die keine ist. Ich stehe vor einer Fähre, die erst in Stunden fährt. Also Bonusprogramm: zwanzig Extrakilometer, glasklares Licht, spiegelglatte Wasserflächen, Dörfer mit klingenden Namen, die aussehen, als wären sie gemalt.
Kurz vor Mittag tauchen hinter den Bäumen die Türme von Efteling auf. Ich bin verschwitzt, glücklich und ein bisschen aufgeregt. Ich hänge meine Radkleider ans Velo, ziehe mich um.
Der Eingangsbereich ist pure Theaterkulisse: Musik, Düfte, alles überzeichnet. Ich komme mit meiner Europapark-Jahreskarte gratis rein, und es klappt wirklich – die Dame am Eingang lächelt, scannt, nickt. Und dann geht’s los.
Joris en de Draak: Zwei Holzachterbahnen nebeneinander, Feuer gegen Wasser. Holz knarrt, Ketten rasseln, die Luft riecht frisch. Wir stürzen mit 75 km/h in die Kurven, der Wind reisst an meinem Gesicht. Schön.
Symbolica: Ein Ride, wie ein Traum aus Samt. Lautlos gleitend durch Säle voller Musik und Licht. Ich denke an meine Kinder. Sie würden das lieben, diese Mischung aus Magie und Technik.
Vogel Rok: Stockdunkel. Eine Rakete auf Schienen. Ich sehe nichts, höre nur den Soundtrack und das eigene Lachen, das mir entgegenhallt. Ein kurzer Moment von purem Kontrollverlust.
Max & Moritz: Eine Familienachterbahn. Modern, verspielt, absurd liebevoll gestaltet. Überall kleine Details: Hühner, Wäsche, Werkstätten. Ich staune, wie viel Liebe in Kunststoff gegossen werden kann.
Danse Macabre: Der neue Stolz des Parks. Ich laufe durch einen Friedhof, Lautsprecher versteckt zwischen den Grabsteinen. Der Wind rauscht durch die Bäume, dann öffnet sich der Hauptsaal. Boden, Bühne, Bewegung. Das Ganze ist eine Symphonie aus Schauer und Schönheit.
Vliegende Hollander, Python, Piraña, Fata Morgana, Fabula – eine Parade von Themen, Zeiten, Welten. Ich fahre, laufe, staune, vergesse die Zeit.
Zwischendurch bleibe ich immer wieder bei Holle Bolle Gijs stehen – diesen sprechenden Mülleimern, die freundlich „Papier hier!“ rufen. Ich werfe etwas rein, höre das „Danke schön!“. Wer seine Abfalleimer so charmant macht, hat verstanden, was positives Design ist.
Als der Abend kommt, leeren sich die Wege, Musik weht über den Park, die Sonne färbt den Himmel rosa. Ich werfe einen letzten Blick auf die Achterbahnen. Dann wieder aufs Rad. In Tilburg ein Schreckmoment: Eine Frau liegt am Boden, Kopfverletzung, Blut. Menschen helfen schon. Ich halte Abstand, aber das Bild bleibt. In Holland trägt kaum jemand Helm. Ob es geholfen hätte, weiss ich nicht.
Die letzten Kilometer sind flach, schnurgerade. Die Landesgrenze kommt leise, fast zufällig: Baarle-Nassau, der Ort, in dem Belgien und die Niederlande sich gegenseitig in Vorgärten schneiden. Mein Hotel liegt im einen Land, ein Teil vom Restaurant im anderen. Ich trage danach das Rad keuchend die brutal steile Treppe hoch. Klickpedale und viele Kilos Gepäck – wer braucht schon Fitnessstudio.
Belgien: Beton, Blasen und Biss
Ich wache auf und sehe: nur eine Socke. Die andere ist verschwunden, wahrscheinlich Opfer einer nächtlichen Fluchtversuches. Ich zucke mit den Schultern. Also los: eine Socke, zwei Schuhe, elf Grad.
Die Tour startet im Morgengrauen. Ich trage meine gelbe Regenkleider, nicht weil es regnet, sondern weil ich leuchten will. Sichtbarkeit auf den Strassen ist keine Nebensache, sondern manchmal reine Überlebensstrategie.
Die ersten Kilometer sind magisch. Nebel liegt über den Feldern, das Licht meiner Lampe schneidet ihn in Streifen. In der Ferne sehe ich einen anderen Velofahrer, winzig, nur ein Lichtpunkt fünf Kilometer entfernt. Wir begegnen uns wortlos, zwei Geister auf Asphalt.
Dann Belgien. Und Belgien ist – wie soll ich sagen – ehrlich. Kein Hochglanz, kein Veloparadies. Strassen wie Betonplatten aus der Nachkriegszeit, verbunden mit Spalten, die jede Felge prüfen. Ich merke, dass das hier kein Wellness-Radeln wird.
Doch zwischendurch zeigt sich das Land von seiner besten Seite: alte Bahntrassen, umgebaut zu Velowegen, kilometerlang, still, flach, perfekt. Ich fahre durch kleine Dörfer, rieche Brot und Diesel, sehe Bauern, die mit Traktoren voller Kartoffeln durch die Strassen rumpeln. Belgien riecht nach Arbeit. Ab und zu kracht mein Velo über Kopfsteinpflaster.
Nach 9 Stunden wechselt die Socke den Fuss.
Hinter Andenne sehe ich eine riesige Schiffswerft. Der Lärm der Schweissgeräte hallt über das Wasser. Ich halte kurz an, fülle meine Flaschen in einer Apotheke.
Am Nachmittag wird’s zäh. Das Gelände wird wellig, der Wind dreht Mein Hintern meldet sich, meine Schultern auch. In den Ardennen fallen Haselnüsse von den Bäumen – eine trifft mich. Die Kilometer fressen sich langsam durch den Tag. 200, 220, 240. Ich spüre das Gewicht – meines und das des Gepäcks. Am Abend, nach über 12 Stunden Fahrt und 253 Kilometern, rolle ich nach Arlon.
Nebel, Nationen und der lange Atem
Ich wache auf, als hätte mich jemand in Nebel eingewickelt. Draussen ist alles grau, gedämpft, schwer. Der Körper fühlt sich müde an.
Es ist kurz nach sechs, als ich mich aufs Velo schwinge. Ich rolle in die Dämmerung. Der erste Kilometer bergab – und schon fühlt sich alles wieder leichter an. Ich liebe diese Momente, wenn der Tag neu geboren wird und man das Gefühl hat, er gehöre einem allein.
Kurz darauf eine Baustelle, Strasse gesperrt. Mein Bauch sagt: „Fahr trotzdem.“ Ich folge ihm. Zwei Minuten später steht ein Reh am Strassenrand, schaut mich an, bewegt sich keinen Millimeter. Es ist still, nur mein Freilauf klickt. Und ich denke: Intuition lohnt sich.
Luxemburg empfängt mich mit Ordnung und gepflegten Dörfern. Ich halte an einer Apotheke, kaufe Blasenpflaster und klebe mir gleich drei auf. Die fehlende Socke hat ihren Tribut gefordert.
Der Nebel wird dichter. Ich fahre durch ein Meer aus Watte, in dem Häuser zu Geistern werden. Ab und zu liegen Kartoffeln auf der Strasse.
Dann plötzlich: die Mosel. Ich rolle hinab, spüre den Druck in den Beinen, rieche Wein und Erde. Der Nebel reisst auf, und vor mir öffnet sich ein Flusstal wie ein Gemälde.
Die Brücke bei Schengen – kaum 500 Meter, aber ein politisches Symbol für offene Grenzen – und ich bin wieder in Deutschland.
Kurz darauf Frankreich. Der Strassenbelag dort – sagen wir: er hat Charakter. Aber wenigstens scheint jetzt die Sonne. Ich spüre sie auf der Haut, die Beine werden leichter.
Dann die Vogesen. Ein langer, zäher Aufstieg, Kilometer um Kilometer, die sich stapeln wie Gedanken. Der Wind kommt von vorne, von der Seite, dann wieder von nirgendwo. Aeolus, der alte Windgott, scheint heute schlechte Laune zu haben. Ich kämpfe mich hoch, schwitze, fluche, singe leise.
Oben, endlich: Weitblick, Wälder, Windräder. Ich trinke Wasser, atme durch, fahre weiter.
Und dann: Abfahrt. Schnell, lang, berauschend. Asphalt, Kurven, Sonne. Ein Moment, der nach Ewigkeit schmeckt.
In Frankreich wird der Weg kurz darauf wegen einer Treibjagd gesperrt. Ich höre Schüsse in der Ferne.
Nach 120 Kilometern kommt die Erschöpfung. Der Wind hört nicht auf, meine Beine sind leer. Dann treffe ich zwei Typen – Lycra, Carbon, Rennvelo-Maschinen. Ich hänge mich in ihren Windschatten. Schön hier.
Gegen Abend flutet goldenes Licht über die Kanäle. Strassbourg taucht auf – Türme, Brücken, Wasser, Musik. Ich rolle durch die Stadt, während die Sonne in den Rhein sinkt. Der Himmel brennt in Orange und Blau. Ich weiss, dass dieser Moment bleiben wird.
231 Kilometer, fast elf Stunden unterwegs.
Vom Nebel in den Looping
Der Morgen riecht nach Kälte. Der Kanal dampft wie eine heisse Tasse. Ich folge seinem schnurgeraden Rücken, fünf Kilometer ohne eine einzige Kreuzung, nur Wasser, Dampf und das Summen der Reifen. Dann hinein in den Morgenverkehr von Strassburg, durch Ampelphasen und Bürokaffee-Gesichter, wieder hinaus ins Nichts: Felder, Nebelfetzen, drei Rehe am Rand, die mich anschauen, als wäre ich ein seltsames Wetterphänomen. Es ist aber inzwischen einfach zu kalt für eine Socke. Ich kaufe Socken. Und gleich auch Schuhe. Pragmatismus schlägt Romantik.
Das Tagesziel ist ausnahmsweise kein Pass, sondern ein bekanntes Paralleluniversum: der Europapark. Ich rolle durchs Tor und merke, wie das innere Kind den Lenker übernimmt. Erst Aufwärmen für die Seele: Piraten in Batavia. Es ist eine Wasserfahrt wie ein Märchenbuch in sieben Minuten: Lampen, Lachen, Lichter.
Im Voletarium sehe ich gewisse Szenen mit anderen Augen. Wohlwissen, dass ich an bestimmten Szenen vor ein paar Tagen mit dem Velo war. Ein schönes Gefühl.
Dann Holz. WODAN. 40 Meter hoch, 100 km/h, ein Orchester aus Knarren und G-Kräften.
Blue Fire ist das Gegengift: 0 auf 100 in 2,5 Sekunden. Ich grinse in den Fahrtwind.
Weiter geht es durch die tropfnassen Kurven der Tiroler Wildwasserbahn, der Sprühnebel von Atlantica, ein kurzer Flug durchs Pariser Nachtblau im CanCan-Kosmos. Und dann die kleine Obsession des Tages: High-Score-Jagden in den interaktiven Rides.
Die Voltron kenne ich ja schon bestens – die muss natürlich auch sein. Und zum Schluss Silver Star, der alte Riese: 73 Meter hoch, 130 km/h, ein minimalistisches Gedicht aus Lift, Drop, Airtime. Auf der Silver Star habe ich mehr Höhenmeter gemacht als in ganz Holland.
Die Sonne sinkt. Ich fahre wieder los. Überland nach Herbolzheim. Die Felder sind still, der Himmel macht langsam zu. Abends ein einfaches Nachtessen, später Klavier im Nebenzimmer. Diese Art von Musik, die nicht beeindrucken will, sondern ankommen.
64,56 km. Ein kurzer Tag auf dem Velo, ein langer Tag im Kopf. Und falls man das misst: ein sehr guter.
Zwischen Sternenhimmel und Gegenwind
Der Wecker klingelt um 3:45 Uhr. Ich liege da, der Körper schwer, die Gedanken leicht. Draussen funkeln Sterne, es ist drei Grad.
Ich rolle los, zusammen mit Eva. Sie hat sich gestern spontan entschieden, mitzufahren – 27 Kilometer nach Freiburg, ihr erster Arbeitstag. Ihre positive Energie ist ansteckend. Wir fahren durch die Dunkelheit, nur das Summen der Reifen, kein Wind. Sie fährt ohne Licht. Es passt zu ihr. Spontan, furchtlos, ein bisschen verrückt. Um 6:24 Uhr erreichen wir ihren Arbeitsort in Freiburg. Sie steigt ab, schaut mich an, lächelt – und verschwindet in der Drehtür.
Ich fahre weiter. Kurz darauf färbt sich der Himmel. Morgendämmerung, kalte Finger, ruhige Strassen. Der Rhein begleitet mich, still und breit. Ich passiere Chemiefabriken, rieche fremde Gerüche. Dann die Kraftwerke am Rhein, wo Beton auf Natur trifft.
In Basel zurück auf Schweizer Boden. Der Wind haut mir ins Gesicht, als wolle er sagen: Willkommen zurück in der Realität. Ich kämpfe dagegen an, trete weiter. Über den Jura, den ich schon ein paar Mal gefahren bin, heute aber mit anderen Augen. Müde, aber dankbar.
Die letzten Kilometer rollen sich wie von selbst. Das Velo kennt den Weg, die Beine funktionieren aus Gewohnheit. Ich sehe die ersten Häuser von Luzern, das Licht der Stadt. Zuhause. Kein Zieltor, kein Applaus. Nur das Knacken der Pedale und das stille Wissen, dass alles gesagt ist.
927 Kilometer, zwei Freizeitparks, sechs Länder. Ich bin müde, hungrig, glücklich.
Abends noch einkaufen, duschen, essen. Dann falle ich ins Bett. Draussen rauscht der Wind und ich denke: Komfortzonen haben keine Fast Lanes.







