Die Ostschweiz kenne ich relativ schlecht. So sind die 200 Kilometer vom Radathlon am Säntis Classic ideal, um diese Gegend mal ein wenig kennen zu lernen.
Am Vortag bin ich nach Weinfelden angereist und habe dort übernachtet. Trotzdem geht es früh für mich los am morgen. Nachdem die Startnummer montiert ist, gibt es ein kurzes Fahrerbriefing. Zuerst gibt es eine kleine (70 km) und dann eine grosse (130 km) Runde. Pünkltlich um 06:30 fällt der Startschuss der Leistungsgruppe 1 für den Radathlon. Leistungsgruppe 1 bedeutet, dass die Teilnehmer zwischen 27 und 31 km/h fahren sollen. Um diesen Tempo über die 200 km einzuteilen, gibt es Guides vorne im Feld, welche das Tempo regeln.
200 Kilometer ist eine ganz schöne Ecke. Aber es ist ja nicht das erste 200km Rennen für mich dieses Jahr. Mit knapp 30 km/h fahren wir die ersten etwa 40 Kilometer über viele kleine Hügelchen in der Bodenseeregion. Die Stimmung ist traumhaft: die Sonne steht tief am Horizont, die Landschaft zeigt sich in den schönsten Farben. Vor uns fährt ein Begleitfahrzeug, welches “den Weg freiräumt”. Dieses wird begleitet von 2 Motorradfahrern, die an jeder Kreuzung und Ausfahrt kurz den Verkehr stoppen. Trotzdem fahren wir in einem sehr gemütlichen Tempo. Etwa nach einer Stunde treibt ein Bauer gerade seine Kühe auf die Weide, da steht das Feld mal kurz still.
Bei Kilometer 50 gibt es eine Verpflegungsstelle. Kollektives Anhalten und Absteigen. Finde ich als Verhalten für einen Wettkampf etwas ungewöhnlich, aber wir sind ja noch in der neutralisierten Phase. Wasserflaschen auffüllen, Biberli pflücken und Blumen giessen. Und weiter gehts. Kurz vor Ende der kleinen Runde halten wir auf einem Hügel an. Grosse Fragezeichen in den Augen. Sind wir falsch gefahren? Viele Fahrer kramen Pläne aus ihrer Hosentasche oder suchen die Karte auf dem GPS. Alles Goldrichtig. Von Vorne höre ich das Gerücht, dass wir “zu schnell unterwegs” sind und deswegen das Start/Ziel-Gelände noch nicht frei ist. So geniessen wir den Sonnenschein bevor es dann weitergeht. Bei der Zieldurchfahrt haben wir 32 km/h auf dem Tacho stehen. Für eine flache Strecke ist dies nicht so schnell, aber es sind ja noch 130 km zu absolvieren.
Kurz nach der Zieldurchfahrt preschen die ersten an den Guides vorbei. Ich hänge mich ran. Endlich geht die Post ab. Wir überholen die Teilnehmer der anderen Kategorien, welche “nur” 130 km fahren. Teilweise geht es steil nach oben, trotzdem ist das Tempo hoch. Wir sind eine Gruppe von etwa 40 Fahrern. Da die Strassen nicht gesperrt sind, fährt jeder sehr vorsichtig und es wird miteinander oft kommuniziert, wo die Strecke durchgeht. Der Blick aufs Display zeigt nun einen 35er Schnitt an. Schon besser so.
Nach 120 Kilometer gibt es eine Verpflegungsstation. Der Menschenauflauf gleicht einer Volksabstimmung in Obwalden in den 1990ern. Ich fülle kurz meine Wasserflasche auf und schnappe mir zwei Bananen. Weiter geht’s. Unsere Spitzengruppe besteht nur noch aus 14 Fahrern.
Nun kommt der Happige Teil. Ein paar Kilometer weiter steht in Neu Sankt Johann ein Abzweiger “Schwägalp”. Dort geht es jetzt hoch. 10.2 Kilometer und 532 Höhenmeter. Klingt eigentlich nicht so spektakulär. Trotzdem hat es Passagen mit weit über 10% drin. Bei einer Temperatur von 30 Grad auf dem Display und 130 Kilometer in den Beinen ist dies trotzdem herausfordernd. Der Pass selbst ist nicht wirklich hoch. Durch die Berge im Umfeld wirkt der Anstieg aber richtig alpin. Jeder Teilnehmer quält sich dort hoch, das Feld löst sich komplett auf. Irgendwann drückt es mir im Hals. Der Puls ist zu hoch, die Sonne zu aggressiv, die Rampen zu Steil. Ende Feuer. Ich versuche durchzubeissen aber hier ist nichts mehr zu machen. Im Schatten einer grossen Tanne steige ich vom Rad. Ein paar Minuten Pause. Durchatmen. Kräfte sammeln. Ich bin betrübt, denn am Strassenrand eines Rennens zu stehen, macht nicht so Spass. Dass ein paar andere es mir gleich tun, poliert mein Selbstvertrauen wieder ein wenig auf – und weiter gehts!
Auf der Passhöhe ist nochmals ein Verpflegungsposten. Ich weiss, dass ich durch meine Tannen-Aktion und meine (nicht vorhandenen) Kletterkünste viel Zeit auf die Spitze verloren habe. Daher halte ich den Stopp so kurz wie möglich. die leeren Flaschen fülle ich auf, ich schlucke einen grossen Becher Bouillon. So kann ich meine Kräftespeicher ein wenig auffüllen. Rasant geht es anschliessend nach Urnäsch runter, wo wir mit über 80 km/h ein paar Motorradfahrer überholen. Das macht Spass.
Die Strecke flacht bei 150 Kilometer wieder ab. Ich versuche das Tempo zu halten, doch merke rasch, dass die Beine langsam leer sind. Ich hänge mich in den Windschatten einer kleinen Gruppe. Langsam merke ich, dass ich zu lange zu viel Energie verbraten habe. Daher versuche ich so gut wie möglich meine Aerodynamik-Künste auszuspielen. Klein machen und Energiesparen. Da Tri-Bars nicht verboten sind, kommt es mir jetzt zu gute, dass ich solche Montiert habe. Die Gruppe wird kontinuierlich langsamer. Ich bin nicht der einzige, welcher ein Energieproblem hat. Trotzdem sind sie mir ein wenig zu langsam. Bei Kilometer 166 presche ich nach vorne und ziehe weg. Doch nach wenigen Minuten scheitert das Vorhaben. Krämpfe in beiden Beinen. Ich muss beidseitig ausklicken. Jede noch so kleine Anstrengung löst sofort neue Krämpfe aus. Ich versuche die Beine zu massieren. Auf dem Rad mit beidseitig ausgeklickten Füssen ist dies nicht ganz einfach.
In 14 Kilometern kommt noch ein Verpflegungsposten. Ich beginne die Kilometer zu zählen, ich bin komplett am Ende. Eigentlich bin ich mir 200 Kilometer und mehr bestens gewohnt, doch die Hitze macht mir stark zu schaffen. Mir ist schwindelig und ich habe starke Kopfschmerzen. Ich quäle mich den letzten Anstieg zum Verpflegungsposten hoch. Ich steige vom Fahrrad und lasse es ins hohe Gras fallen. Dann torkle ich über das Gras zum Verpflegungsstand. Ein freundlicher Helfer sieht mich und reicht mir ein Becher mit Cola hin. “Du hast es nötig”. Ja das habe ich. Dringend. Ich nehme alles was Energie gibt – und gleich zwei Magnesium-Beutel. Leider bin ich bereits an der Schwelle, wo ich mich zum Essen und Trinken zwingen muss, da ich bereits so entkräftet bin. Flauschig geht anders. Ich sitze mich auf eine Bank und verpflege mich. Langsam wird es besser, mein Körper kühlt sich ab. Ein kleiner Junge sagt “Schau Papi, hier kommen die Starken”. Er zeigt auf eine grosse Fahrergruppe mit schwarzen Startnummern, die soeben beim Verpflegungsposten eintreffen. Ich bin komplett überrascht. Schwarze Startnummern sind 200-Kilometer Fahrer – und ich dächte, dass ich so weit zurückgefallen bin, dass ich der letzte bin. Anscheinend hat sich der kurze Stopp auf der Schwägalp tatsächlich ausbezahlt. Auf einmal mobilisieren sich meine Kräfte. Ich schwinge mich aufs Rad und fahre los.
Bis ins Ziel sind es nur noch 20 Kilometer. Mehrheitlich flach oder sogar leicht bergab. Jetzt muss ich nur noch beissen. Ich kann mich an einer kleinen Gruppe anhängen, die ein beachtliches Tempo fährt (jedenfalls für 180 Kilometer in den Beinen). Da meine Beine leer sind, fahre ich nur noch im Windschatten mit. Ich habe Angst, dass die Krämpfe wieder kommen. Langsam fange ich an die Kilometer zu zählen. 10, 9, 8 … einfach durchhalten…., 7, 6, 5 …. 4, 3, 2…. Flamme Rouge und im Ziel. 6 Stunden 37 Fahrzeit für 202 Kilometer steht auf dem Tacho. 30.5 Km/h. Kurz bin ich enttäuscht, dass ich nicht mehr reissen konnte, doch als ich die (noch fast leere) Garderobe betrete, bin ich doch sehr happy über meine Leistung.
Eine kleine Anmerkung an die Organisatoren: Wenn ein Event als “Radathlon” ausgeschrieben ist, auf der Website ausdrücklich “Sicherheitsfahrzeuge und Motorrad-Marshalls” im Startpaket drin sind und die Anmeldung über Datasport läuft (und dort es als “Wettkampf” bezeichnet wird), gehe ich davon aus, dass es ein Rennen ist. Viele Rennen in der Schweiz haben in den AGBs die Klausel drin, dass es “Touristikrundfahrten” sind, da die Strassen nicht gesperrt werden. Faktisch sind es aber Rennen. Bei einer Startgebühr von 100 CHF ist die Enttäuschung sehr gross, dass nicht mal eine offizielle Zeitmessung oder Rangliste drin liegt…